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Europa zwischen Hoffnung und Härte: Stirbt der Green Deal?

Ich freue mich immer wieder über den Austausch mit Günther Sidl, EU-Abgeordneter der sozialdemokratischen Fraktion und langjähriger Weggefährte in Fragen der ökologischen und sozialen Gerechtigkeit. Günther ist nicht nur ein überzeugter Kämpfer für den Klimaschutz, sondern auch ein aktives Mitglied des Umweltausschusses im Europäischen Parlament. In zahlreichen Gesprächen durfte ich von seinem tiefen Wissen und seiner klaren Haltung profitieren. Erst kürzlich hat mich Günther über die aktuellen Entwicklungen in Brüssel und Straßburg rings um Clean Industrial Deal, Affordable Energy Plan und das Omnibus-Paket informiert, die gerade den Green Deal als europäisches Leuchtturmprojekt ablösen. Ich habe Günthers Informationen zum Ausgangspunkt für eine tiefergehende Analyse genommen – schließlich zeigt die Verschiebung von Investitionsmitteln weg von mehr Nachhaltigkeit hin zu mehr Rüstung eine gefährliche Dynamik auf, über die wir intensiv sprechen müssen.

Ein Europa im Wandel – aber in welche Richtung?

Seit der Veröffentlichung des sogenannten Draghi-Berichts im September 2024, steht vor allem eines im Zentrum der europäischen Diskussion: die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Europa. Der Bericht, der von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits 2023 in Auftrag gegeben wurde, fordert Investitionen von rund 800 Milliarden Euro jährlich – zur Schließung der Innovationslücke mit den USA und China, zur Senkung der Energiepreise und zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Drittstaaten. Während man aber beim Klimaschutz jahrelang um jeden Euro feilschte, stehen finanzielle Bedenken in anderen Fällen nicht mehr auf der Tagesordnung. Zu den geforderten 800 Milliarden Euro jährlich für die Industrie kommen jetzt auch noch 800 Milliarden Euro für die Aufrüstung der EU – hunderte Milliarden Euro aus den Mitgliedsstaaten noch nicht einmal eingerechnet. Aber was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn für Aufrüstung, Industriepolitik und geopolitische Resilienz plötzlich ungeahnte Mittel bereitgestellt werden, während die Nachhaltigkeit zur Nebensache wird?

Die Neuausrichtung europäischer Politik ist verständlich – die Weltlage hat sich verändert. Die geopolitischen Spannungen, die wirtschaftlichen Herausforderungen und die Sorge um die Abhängigkeit von Drittstaaten verlangen nach klaren Antworten. Aber die Konzentration auf militärische Stärke und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit darf nicht dazu führen, dass andere zentrale Themen verdrängt werden. Nachhaltigkeit ist kein Luxus, den man sich in ruhigen Zeiten gönnt. Sie ist das Fundament einer stabilen, gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft.

Die sozialen Folgen einer solchen Prioritätenverschiebung sind tiefgreifend. Wenn wir nicht gleichzeitig in soziale Sicherheit, Umweltstandards und Klimaschutz investieren, verlieren wir mehr als nur unser ökologisches Gleichgewicht – wir gefährden den sozialen Frieden. Schwindender Wohlstand, soziale Unsicherheit und ein wachsendes Gefühl der Ungerechtigkeit treiben Menschen in die Arme rechtspopulistischer Parteien. Und wenn diese dann in einem hochgerüsteten Europa an die Macht gelangen, stehen ihnen Mittel zur Verfügung, von denen autoritäre Regierungen früherer Zeiten nur träumen konnten.

Ein solcher Kurswechsel birgt Risiken, die weit über wirtschaftliche Fragestellungen hinausgehen. Er betrifft den Kern europäischer Identität und Werte. Deshalb muss jede neue Investitionsstrategie – auch jene, die auf Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit zielt – immer auch Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung mitdenken.

Green Deal in der Defensive

Was einst als Leuchtturmprojekt der EU gefeiert wurde, gerät zunehmend unter Druck. Nationale Klimapläne werden verschleppt, Gesetzesinitiativen wie zur Wiederherstellung der Natur nur mit Mühe durch das Parlament gebracht. Gleichzeitig werden entscheidende Maßnahmen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und Lieferkettenregulierung verschoben oder verwässert.

Die Kommission versucht, mit dem Clean Industrial Deal und dem Affordable Energy Plan neue Impulse zu setzen. Ziel ist es, Europa zu einem globalen Vorreiter für saubere Industrien zu machen, Unternehmen zur Investition in klimafreundliche Technologien zu motivieren und gleichzeitig die Energiepreise zu senken. Bis 2030 sollen so bis zu 130 Milliarden Euro jährlich eingespart werden – ein ehrgeiziges Ziel. Doch ob diese Initiativen tatsächlich den umfassenden und transformativen Anspruch des ursprünglichen Green Deals einlösen können, bleibt offen.

Zudem enthält das Omnibus-Paket zur Entbürokratisierung zwar sinnvolle Erleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen, jedoch auch eine deutliche Aufweichung der Nachhaltigkeitsrichtlinien. Die Verschiebung der Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) um ein Jahr und der Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) um zwei Jahre sind klare Rückschritte, die die Glaubwürdigkeit der EU im Kampf gegen den Klimawandel gefährden.

Die politische Richtung ist eindeutig: Der Green Deal soll ökonomisch anschlussfähig gemacht werden – aber auf Kosten seiner ambitionierten sozial-ökologischen Agenda. Das birgt die Gefahr, dass aus dem einst visionären Projekt ein zahnloses Instrument wirtschaftlicher Anpassung wird.

Nachhaltigkeit bedeutet mehr als Emissionsreduktion

Nachhaltigkeit ist kein Nischenanliegen. Es bedeutet, ökologische, soziale und wirtschaftliche Aspekte in Einklang zu bringen – langfristig, verantwortungsvoll und generationengerecht. Wenn soziale Gerechtigkeit und Umweltstandards geopfert werden, um kurzfristig militärische oder wirtschaftliche Stärke zu demonstrieren, ist das kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt.

Der Begriff Nachhaltigkeit umfasst nicht nur Emissionsreduktionen, sondern auch faire Arbeitsbedingungen, die Bewahrung natürlicher Ressourcen und stabile gesellschaftliche Verhältnisse. Eine echte Nachhaltigkeitsstrategie muss Antworten auf soziale Ungleichheit, globale Lieferkettenverantwortung und Energiearmut liefern. Nur dann entsteht ein System, das widerstandsfähig gegenüber Krisen ist – sei es durch geopolitische Konflikte, Umweltkatastrophen oder wirtschaftliche Umbrüche.

Gerade in Zeiten globaler Unsicherheit ist es entscheidend, nicht nur auf kurzfristige Effizienz zu setzen, sondern den langfristigen Erhalt unserer Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt zu stellen. Eine EU, die Sicherheit allein militärisch definiert, verkennt die tiefere Dimension von Resilienz. Eine nachhaltige Politik schafft Vertrauen, Stabilität und Wohlstand – nicht nur für heute, sondern für künftige Generationen.

Die Gefahr einer gefährlichen Dynamik

Wenn ökologische und soziale Fragen in den Hintergrund rücken, steigt die soziale Unsicherheit. Die Folge: Menschen verlieren das Vertrauen in Politik und Institutionen und wenden sich verstärkt radikalen Parteien zu – meist jenen am rechten Rand, die einfache Antworten auf komplexe Probleme versprechen.

In einer zunehmend hochgerüsteten EU könnte diese Entwicklung zur größten Bedrohung für die europäische Demokratie werden. Rechte Regierungen, die aus dem sozialen Frust und dem Gefühl der Abgehängtheit Stärke ziehen, könnten schon bald über enorme militärische Mittel verfügen – Ressourcen, die ursprünglich zur Verteidigung der Demokratie gedacht waren.

Was passiert, wenn diese Kräfte mit nationalistischen, autoritären und klimaskeptischen Agenden Politik machen? Wenn Maßnahmen gegen die Klimakrise blockiert oder zurückgenommen werden, wenn Menschenrechte zur Verhandlungsmasse werden, wenn internationale Zusammenarbeit durch nationalistische Alleingänge ersetzt wird? Die gesellschaftlichen Konsequenzen wären fatal – für Menschenrechte, für Demokratie, für den Frieden.

Zudem droht ein Teufelskreis: Je mehr autoritäre Politik Einzug hält, desto stärker wird die Spaltung der Gesellschaft. Demokratische Institutionen verlieren an Rückhalt, soziale Spannungen eskalieren, Proteste werden kriminalisiert – und genau das liefert weiteren Nährboden für extreme Kräfte.

Diese Dynamik zu durchbrechen ist keine leichte Aufgabe. Aber es beginnt mit einer klaren politischen Haltung: gegen soziale Kälte, gegen ökologische Rückschritte und gegen die Entpolitisierung demokratischer Verantwortung. Es braucht eine Politik, die Mut macht – und Mut hat.

Es braucht Balance – und Mut

Niemand bestreitet die Notwendigkeit, Europa sicherer, unabhängiger und wirtschaftlich resilienter zu machen. Aber diese Ziele dürfen nicht auf Kosten des Klimaschutzes und der sozialen Verantwortung erreicht werden. Die aktuell diskutierten Initiativen – Clean Industrial Deal, Affordable Energy Plan und das Omnibus-Paket – müssen so ausgestaltet werden, dass sie nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch nachhaltige Entwicklung und sozialen Zusammenhalt fördern.

Der Green Deal darf nicht zu einem Kollateralschaden europäischer Verteidigungspolitik werden. Vielmehr sollte er als integraler Bestandteil einer umfassenden Sicherheitsstrategie begriffen werden: Denn ökologische Sicherheit ist genauso zentral wie militärische – wenn nicht sogar grundlegender. Die Sicherung natürlicher Ressourcen, der Schutz vor Extremwetterereignissen und der Erhalt von Biodiversität sind zentrale Voraussetzungen für ein stabiles Europa.

Europa hat die Chance, ein globales Vorbild zu bleiben – wenn es den Mut aufbringt, Sicherheit nicht nur in militärischen, sondern auch in sozialen und ökologischen Dimensionen zu denken. Es braucht Politikerinnen und Politiker, die sich gegen den kurzfristigen Druck wirtschaftlicher Interessen stemmen, und Zivilgesellschaften, die klar machen: Wir wollen ein Europa, das Verantwortung übernimmt – für die Menschen heute und für die kommenden Generationen.

Denn eines ist klar: Die Klimakrise wartet nicht, bis wir unsere geopolitischen Hausaufgaben gemacht haben. Sie ist längst da – mit all ihren Folgen. Wir können es uns nicht leisten, sie zu ignorieren. Ein starkes, sicheres Europa ist nur möglich, wenn es auch ökologisch und sozial nachhaltig ist.


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